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Der Ex-Chatfreund

Gleich vorweg: Wenn ich hier "Ich" schreibe, meine ich nicht "ich ich", also jetzt nicht wirklich "mich ich", also auch nicht "mein" oder "mein Chatfreund in echt", also so "wirklich" - das sage ich gleich, denn wenn hier dann "Ich" steht oder "mich" und dann vielleicht noch so etwas wie "der Polizei" oder "ich Ausland" oder "das Rattengesicht" oder "dem Suchtmittelorganisationszentralorgan im deepnet" - also wenn ich jetzt "ich" oder "mein Chatfreund" schreibe, dann schreibt das natürlich ein "Autor", nicht ich.
Und Mama, wenn du hier das Wort "ficken" liest: Das hier ist eine Kolumne, nicht mein echtes Tagebuch. Mein echtes Tagebuch liegt in einer Schachtel in deinem Haus irgendwo am Dachboden. DORT stehen die wirklich interessanten Sachen drin! (Anm.: Aufgrund weltweit fortschreitendem günstigem und fast uneingeschränktem Internetzugang kann meine Mama alles sehen, das ich publiziere, sie braucht nicht einmal mehr ein Abonnement eines Papier-Magazins oder eine Theaterkarte und das ist eigentlich eine Katastrophe. Sie kann von ihrer Küche aus per Laptop mithilfe weniger Klicks alles sehen.)
Nun zu den interessanten Sachen: Ich habe einen neuen Brieffreund. Genauer: Chatfreund. Briefe schreiben wäre zwar romantischer, vor allem wegen der Handschrift, weil man an der Schrift erkennt, was der andere denkt und fühlt, aber chatten geht eben auch so nebenbei, unmittelbar und rasch. Und wirklich romantisch ist diese Beziehung zwischen mir und meinem Chatfreund ja nicht. Eine seiner ersten Fragen an mich war einst: Bist du rasiert? Aber vielleicht ist das ja eine romantische Frage. Er kommt "aus einem katholischen Haushalt". Wasimmer das bedeutet. Ihm ist das sehr wichtig. Ich vermute, er fühlt sich dadurch dem europäischen Adel verbunden. Theoretisch. Er hat in London, Österreich und den USA Ökonomie studiert und ist intelligent genug, dass er mich nicht langweilt. Er ist undogmatisch und denkt unkonventionell. Konventionell an ihm ist nur, dass er sich gegen jede Art von staatlicher Restriktion und Bevormundung ausspricht. Er ist Trader, hängt an der Börse von New York. Ich gebe zu, ich habe auch einmal Ökonomie studiert. Nebenbei. Um Anarchist zu sein, fehlt es meinem Chatfreund aber an Freiheit.
Mein Chatfreund darf fragen, was er will. Da habe ich keine Vorbehalte. Mein Chatfreund ist wie ich Bildschirmarbeiter. Da sind wir sehr gleich. Wir sind beide an Tastaturen und Computer gebunden beim Arbeiten. Das verbindet uns und wir können neben der Bildschirmarbeit noch unsere Befindlichkeiten vertexten.
Obwohl wir beide Bildschirmarbeiter sind und als Selbstständige gleich, ist mein Freund gleicher als ich. Er bearbeitet an seinen Rechnern nämlich Wertpapiere und transferiert Börsendaten durch seine Leitungen, kauft und verkauft, und verdient damit Summen, die man als Jahresgehalt nicht angeben kann, weil das kaum jemand glaubt. Ich schätze, sechsstellige Beträge.
Ich hingegen habe mich leider viel zuwenig für Geld und sechsstellige Summen interessiert, als es darum ging, sich über die Art der Bildschirmarbeit Gedanken zu machen und sich zu entscheiden. Mir bleiben irgendwelche Honorarnotenbeträge von hundert, manchmal zweihundert, manchmal vierzig Euronen. Keine Millionen. Ich habe aber Freunde, die mit Realwirtschaft Millionen verdienen. Das glaubt mir mein Chatfreund nicht. Er verwendet Begriffe anders, als ich. Für ihn ist "Realwirtschaft" eben auch Börsenspekulation, für ihn ist das real und meine Realwirtschaft kennt er überhaupt nicht persönlich.
Gerade habe ich mich wieder in den Dschungel abgesetzt. Es ist heiß und schwül hier, man braucht nicht viel. Am Strand gibt es Fisch. Es gibt hier Internet. Ich teile mir mein kleines Holzhaus mit mehreren Fröschen und Gekkos. Die Frösche dürfen im Wasserklo schwimmen, dafür koordinieren sie Insekten. Koordinieren. Auffressen heisst jetzt koordinieren. Einer darf bei mir im Bett schlafen. Streit bezüglich Zuständigkeit und Insects-Management gibt es immer wieder mal mit den Gekkos. Die Frösche wollen alle nur Indoor-Management machen. Outdoor wartet die Schlange.
Abends gucke ich Gekko-Seifenopern. Ich schalte das Licht aus, beleuchte nur eine Wand mit einem Spot, Insekten und Gekkos treffen sich dort. Es wird gekämpft, gestritten um Essen, um Sex-Partner geprügelt, manchmal wird einer verstümmelt oder umgebracht, es wird gefaucht und gesungen, elegant gehüpft und getanzt. Am nächsten Tag liegt Gekko-Kacke herum. Sex-Szenen werden eher nicht gezeigt.
Mein Chatfreund lebt in München und London. Wenn er nicht mit Aktien spekuliert und so Arbeit simuliert, sitzt er in Hotelbars und konsumiert, rennt jungen Frauen hinterher oder deckt sich mit Rauschgift ein, zum Spaß haben. In erster Linie Kokain. Es gibt zwei Dinge, die ihn interessieren: Geld und Muschis.
Das fand ich immerhin sympathisch. Mit dieser Ehrlichkeit kann man mich eher beeindrucken, als mit einem Pilotenschein, Autos, einem Boot oder wasimmer sich Männer einfallen lassen, um zu gefallen.
Mein Chatfreund und ich sind gleich alt. Er ist drei Jahre älter, was aufgrund des Entwicklungsgefälles zwischen Mädchen und Buben also bedeutet: Gleich alt.
Aber auch in Bezug auf das Thema Alter ist er gleicher als ich.
Ich bin nämlich eine 33jährige Frau und egal ob rasiert oder nicht, komme daher nicht mehr infrage als Sexfreundin. Mein Chatfreund hat nichts übrig für Frauen über dreissig. Er gustiert in der Gruppe U25. Das wäre also die Kategorie "ficken" und "bist du rasiert?" (Anm.: Mama, bitte reg dich nicht wieder auf wegen dem Wort "ficken". Dieses Wort existiert bereits seit dem Mittelalter und kommt in vielen Schriften vor, die noch älter sind. Die "ficarii" (vgl.: ficus, Feigenbaum) sind jene "feigen" Männer, die sich lieber um die "Feigen" ihrer Frauen kümmern, anstatt für "Kaiser und Krone in den Krieg zu ziehen". Das ist doch eine gute Sache, oder, Mama?)
Mein Chatfreund meint, dass mit dem 30. Lebensjahr für Frauen alles anders wird, von einem Tag auf den andern. Nichts ist mehr wie vorher, sie verrotten. Kinder könnten Mongoloid auf die Welt kommen, die Statistik weiß das. Ein bisschen Sperma hat er zur Sicherheit einfrieren lassen, als er 25 war.  
Ich habe gerade Jenni aus Finnland gefragt. Sie macht hier im Dschungel Hardcore Yoga, sieht aus wie eine Wikingerin, zwei Meter groß, schlank, kräftig. In ihrer Jugend war sie professionelle Schwimmerin. Sie arbeitet in Helsinki mit Jugendlichen aus Alkoholikerfamilien, lernt deren Jugendsprache, deren Kultur und die Jugendlichen lernen von Jenni die Kultur der Erwachsenen.
Jenni sieht gut aus, ich schätze sie auf mitte-ende zwanzig. Ihre Augen strahlen. Nur wenn sie über Alkoholismus in Finnland spricht, der stark verbreitet ist, und über Familien, denen der Staat die Kinder wegnehmen muss, wird die Stimme anders. Ich habe sie gefragt, ob sie 29 ist. Sie sagt: No, 42.
Habe ich damit bereits irgendwas widerlegt? Nicht ganz. Aber mein Chatfreund hat auch nichts bewiesen. Eigentlich konnte er als Beleg nur ein Zitat anführen.
"At some point they lose that. That glow of pure youth. It's like they hit 30 - and somebody puts out a light" - dieser Satz stammt von Roger Sterling. Das ist angeblich eine realistische Figur aus Mad Men. Gut. Der Satz ist nachfühlbar, ich weiß, was damit gemeint ist. Nur: Ich sehe dasselbe bei Männern, wenn ich darauf achte. Ich warte noch auf die Antwort meines Freundes. Er liegt viereinhalb Stunden hinter mir, was den Sonnenaufgang betrifft habe ich Vorsprung, er muss gerade noch "Arbeit" simulieren. Dann wird er antworten, sagt er.
Lästig ist auch das mit dem Rasieren. Schweißperlen, winzige drei Millimeter große Ameisen, verschiedenste Insekten, Sand, Staub. Ich brauche meine Haare. Überall.
Egal ob Stadt oder Dschungel, schwüle Hitze oder europäische Bergkälte - mein Chatfreund schreit: Waxing! Diese Art von Befindlichkeitsprosa langweilt mich enorm, aber ich mache eben mit. Der Freund aus München-London sagt: "Sieht geiler aus, fühlt sich geiler an." Ja, ja - ist recht.
Aber er sagt auch, dass seine zukünftige Frau 21 sein soll, nicht arbeiten soll, weil Lohnarbeit nur Probleme macht und Frauen Sitten und Moral in der bürgerlichen Familie pflegen müssen. Seine Frau soll etwas Schöngeistiges studieren, vielleicht ehrenamtlich später dann einer Tätigkeit nachgehen. Viele Kinder soll sie haben, dafür gibts Nannies. Heiraten will er jedoch nicht. Unterhalt an eine Frau lebenslang zu bezahlen, ist eine rechtsstaatliche Frechheit. Im Falle einer Trennung kann seine Frau ja Haferbrei essen und putzen gehen, schöngeistige Studienfächer sind ja nicht dazu da, dass man damit Geld verdient. Selber schuld wenn sie sich trennt. Sorgerecht bekommt dann eh er, da sie ja mittellos ist. Leichtes Spiel. Hätte sich ja einen anderen suchen können.
Dann hat mich mein Chatfreund blockiert. Weil ihm diese Diskussion voll die Lust nimmt, wie er findet. Funkstille. Seltsamerweise begann dieses Gedankenexperiment damit, dass er proklamierte, dass sich Männer nach einigen Jahren von den Ehefrauen trennen, weil das biologisch so sein "muss", Gene verschleudern an möglichst viele andere Frauen, ist halt so. Irgendwann wird es einem halt zu fad mit Torte und Schnitzel jeden Tag, sagte er.
Es sind einige Tage vergangen.
Die Gesellschaft hier im Dschungel hat sich um drei schweizer Damen erweitert.
Karla und ihre Tochter Paula und eine alte Freundin von Karla, Rosa, die seit 20 Jahren immer wieder mal in den Dschungel reist. Sie ist über sechzig. Karla sieht aus wie 55, ist aber 75 und Paula schätzte ich auf 30, aber sie ist 47 und menstruiert gerade ohne Pause wochenlang, weil sie in die Wechseljahre kommt. Ich bin normalerweise gut im Schätzen. Diese Gesellschaft hier weicht ein bisschen ab von der Norm, wie es scheint.
Paula hat gesagt, ich soll diesen Chatfreund vergessen. Der hat sie nicht alle. Das ist einer von den Bänkern, Börsenkoksern und Arschloch-Egos, die sich von Prostituierten ins Gesicht scheissen lassen, sagt sie. Kennt sie. Sie hat in der Schweiz Prostituierte beraten jahrelang.
Sie kennt sich da aus. Ihr Vater war auch so einer. Kommt sehr oft vor in der Schweiz. Viel zu viele solcher Männer, die nicht heiraten und keinen Unterhalt zahlen, alles Geld auf Schwarzkonten verschwinden lassen. Das schweizer Familienrecht: Es hinkt. Finger weg von solchen Typen. Mit denen kann man gar nicht befreundet sein. Mit Koksern befreundet sein, auch schwierig.
Sich mit Biologismen und Sexualität in Kombination mit Geld zu beschäftigen, ist schrecklich unangenehm. Da vergeht einem volle die Lust. Damit hatte mein Ex-Chatfreund recht. Genausogut könnte ich mich hier mit Männerüberschuss an der Börse, in PEGIDA-Ostdeutschland oder im Niederösterreichischen Landtag beschäftigen oder IS-Terror aufgrund Männerüberschuss oder Rechtsruck und Faschismus generell, der immer und an fast allen Orten mit Männerüberschuss auftritt.
Hier im Dschungel haben wir jedenfalls Frauenüberschuss. Die paar Männer, die sich hier auch aufhalten, fühlen sich sehr wohl. Promise.
Ich muss jetzt dringend nach meinen Fröschen sehen. Heute war Abstimmung bezüglich Insects-Outdoormanagement.
Achja. Der Chatfreund hat sich wieder gemeldet. Ich soll mich nicht aufregen, schreibt  er, er hat die Blockierung eh schon wieder aufgehoben.
Dschungel ist nichts für ihn, meint er.  

 
Bildrechte: (CC-BY-NC-ND) "Lighting Tree Frog With Light Painting" von Howard Ignatius ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.


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[Kolumne/Sahra Gabriele Foetschl/23.11.2015]





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